Er gilt als Deutschlands bekanntester Arzt, ist Wahl-Recklinghäuser – und ein Mensch voller Lebensmut.
Prof. Grönemeyer, Sie führen ein bewegtes Leben, voller Höhen, aber auch Hürden. Was gibt Ihnen Zuversicht?
Ich bin vor über 20 Jahren in den Bergen zehn Meter abgestürzt und hatte in diesem Moment das Gefühl: Ich werde getragen, aber gleich ist dieses schöne Leben vorbei. Dieses Gefühl des Getragenseins, das hat ganz viel Dankbarkeit ausgelöst und Kraft gegeben – unter dem Aspekt: Es wird schon. Dieses Erlebnis gibt mir bis heute Zuversicht.
Solche Grenzerfahrungen macht sicher nicht jeder.
Jeder von uns macht existentielle Krisen durch: eine Trennung, der Verlust eines geliebten Menschen – solche dramatischen Ereignisse erleben wir alle. Kraft zu tanken bedeutet: innerlich ruhig werden und sich zu anderen in Bezug setzen. Uns bewusst zu machen, dass wir mit anderen leben, denen wir Energie geben können, Mitgefühl, Respekt und Toleranz. Mut zum Miteinander nenne ich das – das ist für mich als Mensch und Arzt zentral.
Der brutale Angriffskrieg Russlands weckt Ängste, die wir längst überwunden glaubten. Wie geht man damit um?
Trotz aller Schrecklichkeit, aller Verletzungen des Völkerrechts: Es gibt immer die Chance, durch Gespräche Konflikte zu überwinden – sogar nach den Gräueltaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg ist das gelungen.
Wie wichtig ist in dieser Situation eine positive Lebenseinstellung, um gesund zu bleiben?
Waffengewalt, Brutalität verändern immer den Kopf. Wir müssen uns hüten, dass wir dieses Gefühl unseren Kindern einpflanzen. Denn die Kinder haben im Moment – erst Corona, jetzt Krieg – nichts zu lachen. Je weniger wir Lebensfreude ausdrücken, je weniger Kraft zum Gestalten des eigenen Lebens wir haben, desto weniger werden unsere Kinder das tun. Da sind wir Vorbild, im Positiven wie im Negativen.
Bei Kindern und Jugendlichen nehmen Depressionen und emotionale Störungen stark zu. Warum?
Corona hat zum ersten Mal als kollektives Erlebnis gezeigt, wie leicht wir aus der Kurve geschleudert werden können. Alle, weltweit. Kinder haben das zunächst nicht in der ganzen Dimension begreifen können, aber sie haben unsere Bedrücktheit erlebt. Und dann die eigene Isolation und ihre Folgen. Von daher ist es für mich keine Überraschung, dass Depressionen so enorm zugenommen haben. Übrigens genauso wie der Diabetes, der auch bedeutet, dass ein Mensch psychisch unter Druck steht und in permanenter Alarmbereitschaft ist.
Kann die Medizin solche Probleme lindern?
Die heutige Medizin hat ein großes Problem, da sie körperlich ausgerichtet ist und nicht psychosomatisch, geschweige denn psychosozial. Was macht Homeoffice mit uns? Was löst das fehlende Miteinander aus? Wie leben Menschen eigentlich? Haben sie genug Geld, um sich in eine komfortable Situation zu bringen, die sich dann positiv auf Körper und Psyche auswirkt? So ist Medizin heute leider nicht ausgelegt.
Aktuell machen sich viele Sorgen um die eigene Zukunft, um ihren Arbeitsplatz, um ihren Status – wie kann man hier Zuversicht gewinnen?
Zum einen hilft es, sich auf das eigene Leben, das gesellschaftliche Miteinander zu fokussieren und herauszufinden: Was ist mir wichtig? Zum anderen ist das soziale Wohlbefinden entscheidend: Da geht es nicht um die Höhe des Bankkontos, sondern um das Gefühl, sich in der Gemeinschaft wohlzufühlen, damit ich lachen und leben kann, genug Mittel zu haben, um mich gesund zu ernähren, für Kinder und mich selbst Bildungsangebote zu bekommen, um wieder Selbstverantwortung übernehmen zu können. Das muss gesichert sein.
Sie stecken als Arzt, Wissenschaftler, Unternehmer voller Ideen und neuer Pläne. Was treibt Sie an?
Mich packt tagtäglich die Begeisterung für Neues. In dem Moment, wo ein bisschen Begeisterung entsteht, entsteht Leidenschaft – dann bin ich zuversichtlich, dass ich mein Leben gestalten kann. Dazu gehört auch das Loslassen, wenn etwas nicht gelingt und zu sagen: Verändere deinen Weg. Dieser Wille, das Leben selbst verändern zu können – das macht für mich Zuversicht aus!