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„Ich fahre einfach los“

„Ich fahre einfach los“

Lesedauer: ca. 3 Min. | Text: Jakob Surkemper

35.000 Kilometer hat Marco Stepniak auf dem Fahrrad zurückgelegt. Eine Ausstellung zeigt derzeit Fotografien aus der Ukraine und Russland.

Länderübergreifende Fahrradreisen sind nicht das einzig Besondere an dem gebürtigen Recklinghäuser, der in Herten aufwuchs: Marco Stepniak, der auch als freier Fotograf für dieses Magazin arbeitet, lebt seit 2009 in zwei um- und ausgebauten Eisenbahnwaggons in Marl-Sinsen. Darin hängen etliche Fotografien seiner Fahrradreisen und auch das ausgediente Fahrrad, das auf einem Foto im Himalaya zu sehen ist – daneben Steppe, wie ihn viele nennen, schiebend, der Untergrund aus Geröll. „Ich bin immer viel Fahrrad gefahren“, erzählt der 46-Jährige. 1991 geht die erst Tour des damals erst 15-Jährigen ins niederländische Venlo. Es folgen Touren nach Berlin oder 24-Stunden-Touren in Hertens Partnerstädte Schneeberg (Sachsen) und Arras (Frankreich). 2002 – Marco Stepniak hatte gerade sein Volontariat als Bildredakteur bei der WAZ beendet – fragte sein Kumpel Kai Metzner (alias Quincy) ihn, ob er mit ihm um die Welt fahren wolle. „Die WAZ hatte gerade eh Einstellungsstopp; da habe ich spontan zugesagt.“

Bis nach Kuala Lumpur

Von Herten ging es über Italien, Griechenland und Bulgarien in die Ukraine, Russland und Kasachstan, dann weiter nach Tibet, Indien, Thailand und Malaysia. In zehn Monaten, legten die beiden 18.500 Kilometer zurück. Dabei überquerte das Duo nicht nur die Grenzen von Ländern, sondern kam auch an die eigenen. Besonders Kasachstan war eine Herausforderung: „Es war extrem heiß und es gab kaum Wasser – aber die nettesten Menschen!“, sagt er. 15 Liter Wasser brauchte jeder am Tag. Von A nach B waren es oft 300 Kilometer ohne Zivilisation – zu weit, um ausreichend Proviant zu transportieren. Pro Tag legten sie mal 180 Kilometer, mal nur 28 Kilometer zurück. Und manchmal sei am Tag nur ein einziges Auto vorbeigekommen. Die Verständigung lief meist über einige Brocken Russisch. „

Wie Gott

„Einmal lag ich völlig erschöpft auf der Straße, Quincy war schon zur nächsten Bergkuppe vorgefahren, als plötzlich ein Auto neben mir anhielt und der Fahrer mir eine Flasche Wasser reichte. Der kam mir vor wie Gott.“ Wie die Reisenden später feststellten, handelte es sich um einen Hotelbesitzer, bei dem beide privat übernachten konnten. Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft sind häufige Motive, wenn Marco Stepniak von seinen Fahrradreisen berichtet. In seinen Sommerurlauben legt er nicht selten über 1.000 Kilometer auf dem Rad zurück. Dass die meisten Menschen im Urlaub zwei, drei Wochen an einem Ort bleiben und womöglich jedes Jahr am selben, kann er nicht verstehen. „Das wäre mir viel zu langweilig. Spätestens nach ein, zwei Tagen am gleichen Ort muss ich weiter.“

Geil reinzuplatzen

2015 nimmt er erstmals seine damals dreijährige Tochter Clara mit. „Die hat auf dem Flug nach Namibia aufgehört, in die Windel zu machen.“ Geplant wird kaum etwas. „Ich fahre einfach los. Es kommt sowieso anders, und dann bricht der Plan zusammen“, weiß Steppe. Nur Start- und Endpunkt stehen. Zwar habe er auch immer ein Zelt dabei, aber in 99 Prozent der Fälle klopfe er einfach irgendwo an und erhalte dann ein Zimmer, oft auch etwas zu essen. Da wird auch schon mal das Kinderzimmer freigemacht oder sogar ein ganzes Haus zur Verfügung gestellt, wie auf der letzten Tour durch Bosnien. „Es ist einfach geil, irgendwo reinzuplatzen. Die Tiere werden gemolken, und die Mutti kocht.“ Es ist dieser authentische Einblick ins Leben der Menschen, die den Marler reize. Und oft seien dadurch schon anhaltende Bekanntschaften entstanden – wie 2019 in Odessa, wo Steppe bei Alex und Olga übernachtet. „Der Taxifahrer hat uns hängen lassen. Schließlich hat uns Alex ganz selbstverständlich vom anderen Ende der Stadt zum Flughafen gefahren.“

Wiedersehen in Marl

Vor einem halben Jahr konnte Stepniak sich revanchieren: Als der Krieg ausbrach, sammelte er binnen kurzer Zeit 4.000 Euro und organisierte die Flucht nach Deutschland – zunächst von Olga und ihrer Stieftochter, wiederum über eine Bekannte aus Moldawien. Kürzlich konnte auch Alex nachkommen, der seine Lieben nach fünf Monaten am Bahnhof in Marl-Sinsen erstmals wiedertraf. Bei der Vernissage seiner Ausstellung waren Alex und Olga, die bei befreundeten Russen untergekommen sind, zu Gast und berichteten von ihren Kriegs- und Fluchterlebnissen. „Das ist das Absurde“, sagt Steppe, der die Gegend, die jetzt Kriegsschauplatz ist, von vier Touren kennt: „Die wohnen da seit Jahrzehnten friedlich zusammen. Und jetzt bekriegen die sich.“ Auch die nun zehnjährige Clara habe diese Art Urlaub zu schätzen gelernt: Gemeinsam überlegen sie schon, wohin die nächste Tour geht. Auf der Liste stehen noch Argentinien, Tansania, Uganda, Madagaskar und auch Sibirien und die Ukraine – wenn der Krieg irgendwann hoffentlich vorbei ist. 

 

Der Blick durch die Bildergalerie zeigt: Die Eindrücke seiner zahlreichen Reisen hat Fotograf Marco Stepniak festgehalten: (V. oben) einer der letzten Nomaden in Tibet 2002, Wohnen in einer provisorischen Wellblechhütte in Nepal 2018, Einladung zu einem typisches Abendessen in Russland auf einer Parkbank 2008 und in der Nähe des Mount-EverestBasecamps in Tibet 2002. Das große Bild zeigt Marco Stepniak am Rande der Taklamakanwüste in Tibet 2002.

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